19.09.2023
Mit einem Gottesdienst in der Lindenhofskirche in Neinstedt, wurde den mehr als 1.000 Opfern der „Euthanasie“ gedacht.
Mit einem Gottesdienst in der Lindenhofskirche in Neinstedt, wurde am Sonntag, dem 17. September 2023 den mehr als 1.000 Opfern der „Euthanasie“ in den damaligen Neinstedter Anstalten gedacht.
Die Predigt hielt der Präsident der Diakonie Deutschland, Ulrich Lilie. Der Gottesdienst wurde live im Radio auf MDR-Kultur übertagen. Anlass ist das 175-jährige Jubiläum der Diakonie, das in diesem Jahr begangen wird. Thema des Gottesdienstes war das finsterste Kapitel der Diakoniegeschichte, mit der sich der Sozialverband seit Jahren kritisch auseinandersetzt: die Preisgabe Schutzbefohlener an die Tötungsmaschinerie der Nationalsozialisten.
Der Pädagogisch-Diakonische Vorstand der Evangelischen Stiftung Neinstedt, Hans Jaekel, begrüßte die Anwesenden mit den Worten „Die Neinstedter Gemeinde ist bunt. Menschen mit unterschiedlichen Stärken und Schwächen gehören dazu. Die Achtung vor dem Leben ist uns Verpflichtung.“ Dass Menschen auch in Neinstedt dieser Verpflichtung nicht immer nachkamen, daran erinnern die Geschehnisse in den Zeiten des Nationalsozialismus.
„Eine unheilige Allianz von Motiven machte das damalige Geschehen möglich. Es gab ökonomische, theologische und auch rassenhygienische Motive. Neinstedt war ein Ort der Finsternis und der Bereitschaft zum Mord. Ein Ort der Feigheit und des Machtmissbrauchs. Ein Ort des Hochmuts und der Menschenfeindlichkeit. Für die Opfer der „Euthanasie“ hat die Evangelische Stiftung Neinstedt einen Gedenkort geschaffen. Jetzt können wir uns an Namen erinnern und den Verschleppten und Ermordeten die Ehre erweisen,“ betonte Hans Jaekel.
Exemplarisch für die 1.019 Opfer, wurden im Gottesdienst vier Namen mit ihren Schicksalen verlesen.
In seiner Predigt mahnte der Präsident der Diakonie Deutschland, Ulrich Lilie: „Es ist wieder vielen Menschen nach Sorge zumute. Denn gerade 85 Jahre nach den furchtbaren Verheerungen, Morden und Verwüstungen, die die Barbarei der Nationalsozialisten über Millionen von Menschen in Europa, der Welt und auch in Deutschland gebracht haben, ist es wieder soweit. Nicht nur in den sozialen Medien, sondern auch auf der politischen Bühne werden wieder spaltende politische Parolen gedroschen: von Menschen, die angeblich eine unterschiedliche Wertigkeit hätten. Wehret den Anfängen. Rassismus, Antisemitismus oder Antiislamismus, jede Art von Menschenfeindlichkeit darf nie wieder Platz in Deutschland haben. Ich wünsche mir, noch mehr Menschen würden aktiv dafür eintreten und nicht schweigen. Die Diakonie und ihre Einrichtungen zeigen – auch wegen ihrer Schuldgeschichte in der Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten - klare Kante gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus.“
Begleitet wurde der Gottesdienst vom Chor der Bewohnerinnen und Bewohnern der Evangelischen Stiftung Neinstedt unter der Leitung von Hans-Martin Fuhrmann.
Im Anschluss an den Gottesdienst wurden 100 weiße Rosen am Gedenkort neben der Lindenhofskirche abgelegt.
Der Gottesdienst ist nachzuhören unter www.mdr.de/religion.
Hintergrund:
In einem gewaltigen Stück der Aufarbeitung, die in dieser Intensität in der Bundesrepublik wohl einmalig ist, ist es dem Historiker Reinhard Neumann gelungen, die unfassbaren Geschehnisse im Rahmen der Euthanasie in Neinstedt zu dokumentieren. 1.019 Menschen aller Altersgruppen, aus dem Elisabethstift und aus der Führsorgeerziehung des Lindenhofs wurden abtransportiert. Ein großer Teil dieser Menschen fand den Tod in den so genannten Zwischenanstalten oder wurde systematisch in Bernburg ermordet. Reinhard Neumann konnte in Zusammenarbeit mit Mitarbeitenden der Evangelischen Stiftung Neinstedt und Studierenden der Fachhochschule der Diakonie in Bielefeld die Namen der Opfer ermitteln. Diesen Menschen wurde nun mit einem Gedenkort ihre Identität wiedergegeben.
Unter dem Titel „Den Zahlen einen Namen geben“ wurde für die Umsetzung dieses komplexen Themas im Jahr 2019 ein Wettbewerb von der Evangelischen Stiftung Neinstedt und der Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle ausgelobt.
Studierende und Alumni der Kunsthochschule Halle haben ihre Vorschläge dazu eingereicht. Eine Jury, bestehend aus Vertretern des Kunstmuseums Magdeburg, der Kunsthochschule Halle, bildenden Künstler und der Evangelischen Stiftung beurteilten in mehreren Sitzungen die eingegangenen Entwürfe.
Der Siegerentwurf von Stine Albrecht wurde umgesetzt. Auf der von Kastanien umrahmten Wiese neben der Lindenhofskirche ist eine Bodenskulptur in Form einer stilisierten Blüte aus einem 35 cm breiten Messingband auf Punktfundamenten platziert. Im Messingband sind alle Namen der Opfer eingeprägt. Innerhalb des Bandes wurde die Wiese mit Netzblatt-Schwertlinien bepflanzt. Die goldfarbene Blumenform zitiert die sakralen Schmuckornamente aus der Deckenmalerei der Apsis in der Lindenhofskirche, die auf blauem Hintergrund für ein ewiges, himmlisches Leben im Paradies stehen.
Das Vorhaben wurde mit einer Projektförderung aus der Kulturförderrichtlinie des Landes Sachsen-Anhalt finanziell unterstützt.
Weitere Informationen:
https://www.neinstedt.de/gedenkort/
https://ausliebe.diakonie.de/termine/gedenken-an-die-dunklen-seiten-unserer-geschichte/